Kurzgeschichten zu Muck Bärentänzer

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Kinder

 

 

 

Es war Frühjahr in der Tundra. Unter dem unendlichen Himmel fanden sich zwischen dem Braun der Erde und dem Grün niedriger Pflanzen nur noch wenige kleine Flecken Schnee. Sie vergingen unter der zunehmenden Kraft des Sonnenmannes und gebaren Rinnsale, die sich zu klaren Bächen vereinigten.

 

 

 

„Kiesel!“ Das Mädchen, es mochte ihr sechster Winter gewesen sein, zeigte aufgeregt in ein flaches Bächlein und sprang breitbeinig hinein. Es beugte den Kopf ganz dicht über die Wasseroberfläche, so dass die roten Zöpfe vom fließenden Wasser gezogen wurden.

 

Ein Platschen, ein Aufschrei, ein Platschen. Ein Junge war dicht hinter das rothaarige Mädchen gesprungen und hatte sie dabei so geschubbst, dass sie vornüber ins Wasser fiel.

 

„Zeig mal – wo sind die doofen Steine?“

 

Während sich das Mädchen aufrappelte, stand er nun selbst gebeugt im Bächlein und griff in das kalte Wasser. Das Gesicht der Kleinen glühte in der Farbe ihrer Haare. Der kleine Körper bebte und zitterte unter der durchnässten Kleidung, sie schwankte zwischen weinerlich schluchzen und zornig schreien, klein beigeben oder angreifen.

 

„Doofe Steine!“ Der Junge nahm eine Handvoll und warf sie, soweit er konnte.

 

„Mihkkil!“ Der Ruf des Mannes war nicht laut, doch sein Hall in der klaren Luft ließ den Jungen innehalten, das Mädchen den Blick in Richtung des Neuankömmlings richten. Wie immer hatte niemand Päive Silvervägen kommen hören, wie immer hörte alles auf ihn, egal ob Mensch oder Tier, vielleicht auch Wind, Gras und Wasser.

 

„Mihkkil, komm her und setze dich. Auch du, Valpuri.“

 

Was blieb den beiden anderes übrig als das zu befolgen, was der Schamane sagte? Angespannt bewegte sich Mihkkil zu dem Mann mit dem dünnen Silberhaar hin, Valpuri folgte mit unsicheren Blicken, die zwischen dem Schamanen und dem Jungen hin und her schwankten, die Wangen immer noch rot, die Nase trotzig hochziehend. Päives Blick erstickte jeden Aufruhr der Kinder im Keim und sie setzen sich. Bedächtig, ohne dass von einem der vielen Amulette oder Ketten des Mannes ein Geräusch zu hören gewesen wäre, begab sich dieser in das flache Wasser und hob einen Kiesel auf. In seinem Rücken streckte Valpuri Mihkkil die Zunge heraus, ein Räuspern des Noaiden ließ sie zurückzucken. Bedächtig kehrte Päive zu den Kindern zurück und setze sich vor sie hin.

 

„Was ist das?“, fragte er, einen Kiesel hochhaltend.

 

Die Kinder schauten ihn mit großen Augen an.

 

„Was ist das?“, fragte er noch einmal.

 

Unsicher, den Kopf zwischen den Schultern, sah der kleine Mihkkil schräg von unten zu dem Mann hinauf und versuchte es mit „ein Stein.“

 

„Richtig“, bestätigte Päive und die Augen der Kinder weiteten sich etwas erstaunt.

 

„Was ist ein Stein?“ Die Augen der Kinder wurden noch größer ob dieser Frage, doch Päive wollte sie nicht weiter verunsichern und fuhr fort:

 

„Ein Stein war ein Berg und wird Sand.“ Die Blicke der Kinder wurden ungläubig. „Ihr erkennt es daran, dass es ein Kiesel ist. Der aus einem Berg gebrochene Stein wurde im Laufe vieler Sommer in Bächen und Flüssen von seinesgleichen und dem Wasser rund geschliffen, auf seinem Weg zum Meer.“

 

„Was ist ‚Meer‘?“, wagt sich Valpuri, immer noch erregt, zu fragen.

 

Milde lächelnd erklärte Päive, dass es ein unendlich großer See am Ende der Erde sei, gefüllt mit Tränen der Geister und Ahnen, denn er schmecke nach Salz.

 

„Und aus dem Meer wachsen wieder die Berge. Aus dem Wasser wird die Erde geboren. Und du“, fuhr der Noaide lauter werdend fort, so dass Mihkkils Aufmerksamkeit von einer Wolke wieder zu den Worten des Noaiden wanderte, „Mihkkil, bezeichnest das als ‚doofen Stein‘. Er ist das Kind eines Bergs, ein Kind des Elements Erde, das wir zu ehren haben wie die Geister und Ahnen.“

 

Zwischenzeitlich war auch Valpuris Geist abgelenkt worden und sie gähnte heftig.

 

„Valpuri“, wandte sich der Schamane streng an das rothaarige Mädchen, „langweilen dich die Geister und Ahnen?“

 

„N – nein, Ehrwürdiger“, ertappt versuchte sie, Interesse zu bekunden und fragte „Was gibt es denn noch außer den Elementen, den Geistern und Ahnen?“

 

„Nun, es gibt Menschen und menschenähnliche – ach lassen wir das“, entschloss sich der Vortragende, „Menschen, die Götter anbeten.“

 

„Was sind Götter?“, fragte Valpuri pflichtschuldig, ohne große Begeisterung.

 

„Götter sind so etwas ähnliches wie unsere Geister und Ahnen. Sie werden nach Aufgaben unterschieden. Einige stehen für Fruchtbarkeit oder“, Päive senkte die Stimme, „für Tod oder für Krieg und Kampf oder Weisheit oder Schmiedekunst. Sie werden angebetet, auf dass bei den Gläubigen die Ernte üppig ausfällt, sie – ähm – die Tiere sich vermehren, sie in das Totenreich eingehen, stark und tapfer Heldentaten vollbringen, durch lesen Wissen …“

 

„Stark und tapfer?“, Valpuris Geist erschien wacher.

 

„Ja, Krieger huldigen diesen Göttern, um im Kampf besser gewappnet zu sein, um ihre Gegner bezwingen zu können.“ Dabei erhob sich der Mann. „So und nun geht mit den Geistern und Ahnen.“ Milde lächelnd wandte er sich zum Gehen.

 

Im nächsten Moment hörte er einen tonlosen Laut und drehte sich mit der Eleganz eines Marders um. Mihkkil war in sich zusammengesunken und Valpuri sah Päive triumphierend an. Die immer noch geballte Faust, mit der sie dem Jungen in den Leib geboxt hatte, erhoben. Bevor der Schamane zum Reden ansetzen konnte, rief sie:

 

„Ich werde Krieger!“